Geschichte
Seit 1961 prägt die Lebenshilfe Wien die Arbeit und Politik mit und für Menschen mit Behinderung in Wien. Lesen Sie hier über die Entstehung der Lebenshilfe Wien.
Gründung der Lebenshilfe Wien
In der „Sonderschule für Schwerstbehinderte“ in der Paulusgasse im 3. Bezirk in Wien befand sich in der Nähe des Einganges ein Raum. Während die Schülerinnen und Schüler in den Klassen lernten, trafen sich hier Eltern, Großmütter und Angehörige, die ihre Kinder zur Schule gebracht hatten. Sie warteten den ganzen Tag, um nachmittags mit ihrem Kind wieder nach Hause zu fahren. Einen Fahrtendienst gab es damals nicht. Das war 1960. Der Schulwart brachte auch eine Mittagssuppe. Man konnte handarbeiten, lesen, dazwischen einkaufen gehen, vor allem aber plaudern. Man kannte die Verhältnisse jedes Einzelnen; Schwierigkeiten, Familienprobleme, plötzliche Ereignisse, Geburts- und Todesfälle. Man war eine Gemeinschaft.
Wohin nach der Schule?
Vor allem aber gab es eine gemeinsame Frage: „Was wird aus meinem Kind, wenn es die Schule beendet?“ Lehrerinnen und Lehrer hatten das gleiche Problem: Ein Schulkind, über Jahre begleitet und gefördert, entwickelt, zu einem Jugendlichen herangewachsen, sollte ins Nichts geschickt werden? Es gab einige Heime, aber das entsprach eigentlich nicht den Vorstellungen. Die Jugendlichen hatten in Werkkunde bereits Arbeiten gelernt, Handfertigkeiten erworben.
Es gab zwei Grundlagen für die weitere Entwicklung, die schließlich die Basis der Gründung der Lebenshilfe bildeten: Arbeit und Gemeinschaft. Eine Stütze dieses Grundgerüstes war sicher Karl Ryker, der umsichtige und engagierte Direktor der Schule Paulusgasse. In Verbindung mit Fachleuten, politischen Amtsträgern und unermüdlichen Eltern kam es schließlich zur Gründung der Lebenshilfe, die im Juni 1961 vereinsgesetzlich genehmigt wurde.
Die ersten Jahre der Lebenshilfe Wien
Die ersten Jahre der Lebenshilfe bemühte man sich, Unterstützung für Jugendliche, die die Schule verließen, möglich zu machen und ihre Weiterentwicklung zu sichern. Die erste Werkstatt im 16. Bezirk in der Effingergasse wurde im September 1966 eröffnet.
Gleichzeitig aber war es wichtig, die Öffentlichkeit von der Bedeutung von Fördereinrichtungen für Menschen mit Behinderung zu überzeugen. Es war damals nicht selbstverständlich, an Menschenrechte von Menschen mit Beeinträchtigung zu glauben. Zu nahe waren noch die Erfahrungen des Nationalsozialismus. Öffentlichkeitsarbeit und Interessenvertretung waren damals besonders wichtig.
Die Lebenshilfe Wien war federführend für das Wiener Behindertengesetz, das 1966 in Kraft trat. Dieses blieb die Basis für alle geförderten Leistungen der Wiener Behindertenhilfe, bis es im Jahr 2010 durch das Wiener Chancengleichheitsgesetz ersetzt wurde.
Von Anfang an gab es auch Kontakt mit gleich betroffenen Eltern und fachkundiger Lehrerschaft in anderen Bundesländern. Eine österreichische Interessengemeinschaft entstand, die 1967 in der Gründung des Dachverbands Lebenshilfe Österreich mündete.
Wichtige Führungspersönlichkeiten in dieser Ära waren Karl Köhler und Prof. Andreas Rett.
Wir wachsen weiter: neue Werkstätten
Das Behindertengesetz ermöglichte die Eröffnung weiterer Werkstätten in ganz Wien: Heute haben wir sechs in Betrieb.
Die meisten Wünsche nach Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung konnten erfüllt werden, die Sorge vieler Eltern über die Wohnsituation ihrer Kinder blieb noch längere Zeit bestehen.
Wo wird mein Kind wohnen?
Bis in die Siebzigerjahre gab es nur die Alternative: Übersiedeln in eine Großanstalt oder lebenslang im Elternhaus bleiben!
Ermuntert durch positive Entwicklungen, insbesondere in den skandinavischen Ländern, konnte die Lebenshilfe Wien schließlich auch die Politik dafür gewinnen, kleine Wohneinheiten mit Einzelbettunterbringung zu finanzieren. Bahnbrechend hierfür war ein Brief des Bürgermeisters Leopold Gratz an die Lebenshilfe Wien im Oktober 1979.
Bis Mitte der Achtzigerjahre richtete die Lebenshilfe Wien Wohngemeinschaften für jeweils rund 12 bis 16 Bewohner/innen ein. Heute führen wir 12 WGs.
Beiträge zur Wiener Behindertenpolitik
Mit einigen Initiativen hat die Lebenshilfe Wien die Wiener Behindertenpolitik geprägt. Sie fallen alle in die Zeit der Geschäftsführung von Walter Eigner (1977–2003).
- Anbieter: nicht nur wir
Als Interessenvertretung drängte die Lebenshilfe Wien darauf, dass das Land Wien mit vielen anderen Organisationen ebenfalls Verträge abschließt. Im Laufe der Jahre entstanden viele kleine und größere Vereine und gemeinnützige Firmen mit vielfältigen Angeboten.
- Arbeitsgemeinschaft Wohnplätze
In den Jahren 1984/85 erklärte die Lebenshilfe Wien in Zusammenarbeit mit „Jugend am Werk“, dass wir in Wien über 3000 neue Wohnplätze für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung brauchen. Im Februar 1986 sagten die Gemeinderäte Hans König und Karl Lacina die Schaffung von 1000 neuen Wohnplätzen in ins Stadtleben integrierten kleinen Wohngemeinschaften innerhalb von zehn Jahren zu. Im April 1986 traten neben der Lebenshilfe Wien fünf weitere Anbieter der Arbeitsgemeinschaft Wohnplätze zur Umsetzung des Programms bei, später nahmen 16 Organisationen daran teil.
- Menschen mit Behinderung heraus aus Steinhof!
Die ArGe Wohnplätze übernahm zusätzlich die Aufgabe, von 1996 bis 2001 im Projekt „Anstaltsausgliederung“ insgesamt 150 Wohn- und Werkstattplätze für Menschen mit Behinderung zu schaffen, die bis dahin in Psychiatrischen Krankenhäusern und Pflegeheimabteilungen untergebracht waren. Dieses Programm führte zur Gründung unserer Wohngemeinschaften im 12. Bezirk, Pronaygasse, und im 17. Bezirk, Pezzlgasse.
- Selbstvertreterinnen und Selbstvertreter
1993 nahm eine Delegation der Lebenshilfe Wien an einem Kongress der „People First“-Bewegung in Toronto in Kanada teil. Angeregt durch dieses Erlebnis organisierte die Lebenshilfe Wien gemeinsam mit der Lebenshilfe Niederösterreich 1994 den ersten österreichischen Selbstvertreterkongress in Puchberg bei Wels, an dem rund 100 Personen aus allen Bundesländern und Südtirol teilnahmen. Im April 1999 fand das erste Treffen der Selbstvertreter/innen der Lebenshilfe Wien statt. Unsere Gruppe war somit auch die erste Selbstvertretergruppe für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung in Wien.
- Qualitätssicherung
Basierend auf Vorbildern in den USA, Australien und Neuseeland führte die Lebenshilfe Wien als erster Anbieter 1994 ein eigenes Qualitätssicherungssystem ein. Sie verpflichtete sich gegenüber dem Land Wien freiwillig, ihre Betreuungsleistungen unter Anwendung dieses Konzepts zu erbringen. Eckpfeiler sind die Qualitätswegweiser sowie die Individuelle Entwicklungsplanung.
Unsere ersten 50 Jahre in einer Broschüre für Sie
Ausführliche Informationen über unsere Geschichte gibt es in der Festschrift „Die Lebenshilfe Wien 1961-2011 und danach“ nachzulesen. (Hier kommen Sie zur elektronischen Version.)
Bestellen Sie Ihr persönliches Exemplar unter: b.schmid@lebenshilfe.wien